Lektionen aus der Biografie von Tidjane Thiam
Es gibt ein bekanntes Führungsprinzip, das einst auch im britischen Königshaus zitiert wurde:
„Never complain, never explain.“
(Niemals klagen, niemals erklären.)
Ich bin anderer Meinung.
Wenn es mit Würde geschieht, sollten Führungskräfte sehr wohl erklären – gerade weil sie als Vorbilder dienen. Sie sollten teilen, wie sie zu der Person wurden, die sie heute sind: wie sie erfolgreich waren – und wie sie gescheitert sind.
Die Herausforderung liegt darin, dies mit Klarheit und Eleganz zu tun – etwas, das nur durch tiefe Selbstreflexion und ein bewusstes Verständnis der eigenen Biografie möglich ist. Unsere Kindheit, Ausbildung, Hobbys und Studienjahre prägen uns. Ebenso frühe Verletzungen – manche geheilt, andere verborgen oder verdrängt. All diese Erfahrungen beeinflussen leise unsere Ambitionen, unseren Führungsstil und unser Privatleben.
In über 20 Jahren Coaching mit Führungskräften habe ich eine zentrale Wahrheit immer wieder gesehen:
Nichts hilft Leaders so sehr, sich selbst zu verstehen, wie der Blick darauf, woher sie kommen und wie sie zu der Person wurden, die sie heute sind.
Menschen mit großen Karrieren tragen oft bemerkenswerte Eigenschaften in sich. Viele verbinden intellektuelle mit emotionaler Intelligenz. Manche sind Frauen in männerdominierten Branchen. Manche fühlen sich „zu klein“ oder „zu groß“. Andere stammen aus einfachen Verhältnissen, haben im Spitzensport brilliert oder sind zwischen Kulturen aufgewachsen. Diese Einzigartigkeit lässt sie hervorstechen – aber sie ließ sie oft schon früh im Leben fremd oder einsam fühlen.
Dann gibt es die tieferen Geschichten: Klienten, deren Eltern im Gefängnis waren (wie bei Tidjane Thiam), die als Flüchtlinge aufwuchsen oder mit schwer kranken Eltern lebten. Solche Erfahrungen tragen schwere emotionale Lasten – und formen doch oft außergewöhnliche Resilienz. Sie machen stark, hinterlassen aber auch Narben. Wahres Executive Coaching bedeutet manchmal, diese verborgenen Geschichten noch einmal aufzusuchen: um zu verstehen, was uns geprägt hat, um zu heilen, was noch schmerzt, und um es in eine Quelle von Kraft – statt Scham – zu verwandeln.
Die Verbindung zu Tidjane Thiams Biografie
Tidjane Thiams Geschichte zeigt diese Spannung. Neben Härten hatte er auch außergewöhnliche Ressourcen: eine einflussreiche Familie, herausragende Intelligenz, eine Eliteausbildung in Frankreich und Zugang zu Europas wichtigsten Netzwerken. Und doch blieben alte Wunden bestehen.
Rassismus in Frankreich und in der Schweiz ist real und hart – aber ich habe Klienten mit ähnlichem Hintergrund gesehen, die ganz unterschiedlich damit umgehen. Das weist auf etwas über Intelligenz und Diplome hinaus: auf die Bedeutung eines tiefen Verständnisses kultureller Nuancen in Führung.
Frankreich, die Schweiz und die USA haben jeweils eigene Führungs-Codes – subtil, aber wirksam. Ich habe dies selbst erfahren, als ich in Paris, London und New York lebte und arbeitete. Diese kulturellen Unterschiede prägen Wahrnehmung, schaffen Bilder von uns, derer wir uns oft nicht bewusst sind – und die wir deshalb aktiv steuern müssen.
Als Absolventin einer französischen Grande École und später im Investment Banking tätig, kann ich mit Sicherheit sagen: Der französische Zugang zu Führung, Management und sogar Privatleben unterscheidet sich grundlegend vom schweizerischen.
Hätte Thiam dabei Unterstützung gehabt, diese Nuancen wirklich zu verstehen und sich anzupassen, hätte sich seine Geschichte bei der Credit Suisse womöglich anders entwickelt. Zu oft glauben internationale Führungskräfte, dass Intelligenz und akademische Brillanz ausreichen, um neue Umfelder zu meistern. Doch je höher man steigt, desto wichtiger werden vertrauensvolle Berater – Sparringpartner, die Annahmen hinterfragen, Verhalten analysieren und den Spiegel vorhalten.
Unterschätzen Sie nie die Kraft, nicht nur die eigene Biografie zu verstehen, sondern auch, wie sie sich im jeweiligen kulturellen Kontext übersetzt.
Das Wesen von Leadership
Leadership erfordert heute mehr als reine Intelligenz. Es braucht eine Balance aus emotionaler und intellektueller Intelligenz, Demut und den Willen zu dienen. Ohne Selbstreflexion trocknen Führungskräfte aus. Sie verlieren Motivation und Verbindung – zu anderen und zu sich selbst. Sie laufen Gefahr, zu Klageführern zu werden, unfähig zu begreifen, warum sich die Welt gegen sie wendet.
Führen zu dürfen, ist ein Privileg. Es ist eine Freude, wenn man die Verantwortung wirklich wertschätzen kann – das Vertrauen, ein Unternehmen, ein Team oder sogar eine Kultur leiten zu dürfen.
Am Ende ist Führung einfach, aber niemals leicht:
Diejenigen, die es schaffen, ihre Vergangenheit in etwas Sinnvolles für die Gegenwart zu verwandeln, sind es, die mit Freude, Motivation und Mitgefühl führen – für sich selbst und für andere.
Über die Autorin:
Nathalie Buschor ist Executive Coach und Psychotherapeutin in Zürich. Sie verbindet Tiefenpsychologie, verhaltensorientierte und systemische Ansätze mit langjähriger Führungserfahrung im internationalen Finanzwesen.
👉 www.buschor.biz
Ihr Buch über digitale Führung widmet sich genau dieser Herausforderung – einer Erkenntnis, die im Silicon Valley längst angekommen ist: Gute Führung ohne persönliche Entwicklung ist eine Illusion. Gerade in anspruchsvollen Situationen liefert sie sonst nicht das, was wirklich gebraucht wird.
By Nathalie Buschor, Executive Coach and Psychotherapist
Lessons from Tidjane Thiam’s Biography
There’s a famous saying in leadership, once echoed in the British monarchy:
“Never complain, never explain.”
I disagree.
When done with grace, leaders should explain—especially when they serve as role models. They should share how they became who they are: how they succeeded, and how they failed.
The challenge lies in doing this with clarity and elegance—something only possible through deep introspection and a profound understanding of one’s own biography. Our childhood, education, hobbies, and university years shape us. So do our early wounds—some healed, others hidden or repressed. All of these experiences quietly influence our ambitions, our leadership style, and our personal lives later on.
In over 20 years of coaching senior executives, I’ve seen one consistent truth:
Nothing helps leaders understand themselves more than exploring where they come from, and how they became the person they are today.
People with great careers often carry remarkable traits. Many are both intellectually and emotionally intelligent. Some are women in male-dominated industries. Some feel “too small” or “too big.” Others come from modest backgrounds, excelled in elite sports, or grew up between cultures. This uniqueness makes them stand out—but it often made them feel different, even lonely, at an early age.
Then, there are the deeper stories: clients whose parents were imprisoned (as in Tidjane Thiam’s case), who were refugees, or who grew up with parents struggling with illness. These experiences carry heavy emotional burdens—yet often forge extraordinary resilience. Such challenges make people strong, but they also leave scars. True executive coaching sometimes means revisiting these hidden stories: to understand what shaped you, to heal what still hurts, and to transform it into a source of strength rather than shame.
The Link to Tidjane Thiam’s Biography
Tidjane Thiam’s story illustrates this tension. Alongside hardship, he had remarkable resources: a powerful family, outstanding intelligence, an elite French education, and access to Europe’s most influential networks. Yet, old wounds remained.
Racism in France and Switzerland is real and harsh—but I’ve seen clients with similar backgrounds experience it differently. That suggests something beyond intelligence or credentials: a need for a deep understanding of cultural nuances in leadership.
France, Switzerland, and the US all carry different leadership codes—some very subtle but all real. I learned this firsthand living and working in Paris, London and New York. These cultural differences shape perception, create images of us that we may not even be aware of—and therefore must actively manage.
Having attended a French Grande École and worked among that elite in Investment Banking, I can say with certainty: the French approach to leadership, management, and even private life differs profoundly from the Swiss.
Had Thiam been supported in truly understanding and adapting to these nuances, his story at Credit Suisse might have unfolded differently. Too often, international leaders believe that intelligence and academic brilliance will be enough to navigate new environments. But the higher one rises, the more essential it becomes to have trusted advisers—sparring partners who challenge assumptions, analyze behaviors, and hold up a mirror.
Never underestimate the power of understanding not only your biography, but also how it translates into a local cultural context.
The Essence of Leadership
Leadership today demands more than raw intelligence. It requires a balance of emotional and intellectual intelligence, humility, and the desire to serve. Without introspection, leaders dry out. They lose motivation and connection—to others and to themselves. They risk becoming complainers, unable to grasp why the world seems to have turned against them.
Being entrusted to lead is a privilege. It’s a joy when you can truly appreciate the responsibility given to you—the trust to guide a company, a team, or an entire culture.
In the end, leadership is simple, but never easy:
Those who manage to integrate their past into something meaningful in the present are the ones who lead with joy, motivation, and compassion—for themselves and for others.
About the Author: Nathalie Buschor is an Executive Coach and Psychotherapist based in Zurich. She combines depth psychology, behavioral, and systemic approaches with many years of leadership experience in international finance.
👉 www.buschor.biz
Her book on digital leadership addresses this very challenge – one already recognized in Silicon Valley: good leadership without personal development is an illusion. Especially in demanding situations, it will not deliver what is needed.